Das Themenheft “Wahrnehmung“ der Zeitschrift LOGON (Nr. 10, April 2022) gab die Inspiration zu folgendem Text:

Eines kann mit Sicherheit gesagt werden: Sehen ist so viel mehr als mit den blossen Augen wahrnehmen.1

Nein, den Kleinen Prinzen aus Saint-Exupérys Erzählung wollen wir nun nicht zitieren. Aber Michael Ende erzählt ebenfalls eine Geschichte dazu: Moni malt ein Meisterwerk. Der Ich-Erzähler schenkt seiner kleinen Freundin einen Malkasten mit vielen schönen Farben, Papier und Pinsel, und Moni will ihm als Dank dafür gleich ein schönes Bild malen.

Sie malt ein Selbstbildnis, das ihr älterer Freund zuerst mit einem Osterhasen verwechselt, da er die in die Höhe stehenden Zipfel für dessen Ohren hält. Nachdem dieser Irrtum geklärt ist und das Bild noch ein bisschen leer erscheint, malt Moni zuerst mit brauner Farbe ein hölzernes Bettgestell um ihr Selbstbildnis und dann ein königliches Nachthemd über die Figur, von der jetzt nur noch der Kopf mit den Zöpfen herausguckt.

Da es im Winter ohne Decke schrecklich kalt werden könnte, malt Moni mit viel weisser Farbe ein dickes, riesiges Federbett über das Selbstbildnis samt schönem Nachthemd und nur noch die Spitzen der Zöpfe sind sichtbar.
Aber Moni ist noch nicht zufrieden und sie malt mit dunkelblauer Farbe schwere Samtvorhänge, die vom Baldachin herunterhängen und geschlossen sind. Sie selbst samt Nachthemd und Bettdecke ist dahinter verschwunden.

„Und jetzt“, fuhr Moni ganz begeistert fort, „knipse ich das Licht aus.“ Und sie malte das ganze Bild schwarz. …
Ich starrte eine Weile auf die Schwärze, dann nickte ich. „Es ist ein Meisterwerk“, sagte ich, „vor allem natürlich für denjenigen, der weiss, was in Wirklichkeit alles drauf ist.“ 2

Meistens ist es uns nicht gegeben, den gesamten Werdegang eines “Meisterwerkes“ zu überblicken und häufig sehen wir nur, was wir zu sehen wünschen. Wo sind unsere Quellen für ein tiefes Verstehen, Erkennen und Wahrnehmen?
Und worauf ist unser Herz gerichtet?

Mit diesen Fragen wollen wir überleiten zum kleinen Mika aus der Erzählung „Hallo, ist da jemand?“ von Jostein Gaarder.
Mika sagt: „Eine Antwort ist niemals ein Grund, sich zu verneigen. Selbst wenn eine Antwort sich schlau und richtig anhört, darf man sich trotzdem nicht verneigen.“ …
„Wer sich verneigt, beugt sich“, sagt Mika. „Du darfst dich nie einer Antwort beugen.“ …
„Eine Antwort ist immer ein Stück des Weges, der hinter dir liegt. Nur eine Frage kann uns weiterführen.“ 3

So bleibt nun die Hoffnung, dass viele Fragen offen sind oder auftauchen …

1 Aus: LOGON Nr. 10, April 2022, Themenheft “Wahrnehmung“, Eines wird sichtbarer von Myriam Häntzschel
2 Aus: Michael Ende, Die Zauberschule und andere Geschichten, Thienemann Verlag 2008
3 Aus: Jostein Gaarder, Hallo, ist da jemand?, Carl Hanser Verlag München 1999